„Meine Fortbildung hat mir gezeigt, wie Schulen zum Wohlfühlen aussehen“

Welche Chancen Erasmus+ auch Förderschulen eröffnet, zeigt sich an der Pestalozzi-Schule in Essen. Anregungen aus europäischen Partnerländern haben dort zu bedeutungsvollen Veränderungen geführt.

Wenn sich Susanne Stock-Knirr an ihren Südtirol-Besuch erinnert, gerät sie ins Schwärmen. Nicht etwa wegen der spektakulären Berge, der majestätischen Burgen oder der delikaten Genüsse der beliebten Urlaubsregion, sondern wegen deren Schulen. Die 60-Jährige ist Lehrerin mit Leib und Seele. Bereits die Hälfte ihres Lebens unterrichtet sie an der Pestalozzi-Schule in Essen, einer Förderschule mit dem Schwerpunkt Geistige Entwicklung. In den zurückliegenden drei Jahrzehnten hat sie dort an vielen Veränderungen mitgewirkt.

In Südtirol fand sie nun neue Inspirationen. „Ich war beeindruckt von der Architektur der Schulen und welche Bedeutung ihr für ein gutes Lernklima beigemessen wird“, berichtet sie. Eine Grundschule, die sie im Rahmen ihrer Erasmus-Fortbildung besuchte, ist dafür ein anschauliches Beispiel. Im lichtdurchfluteten Holzgebäude mit verglasten Räumen, großzügigen Fluren und gemütlichen Leseecken lernen die Kinder ruhig und konzentriert. „Meine Südtirol-Fortbildung hat mir gezeigt, wie Schulen aussehen können, in denen man sich wohlfühlt und wie damit optimale Arbeitsbedingungen geschaffen werden können“, sagt Susanne Stock-Knirr.

Schwerpunkt des Projekts waren Teilhabe und Inklusion.

Susanne Stock-Knirr ist Förderschullehrerin an der Pestalozzi-Schule in Essen.

„Ich erlebe die Erasmus-Fortbildungen als sehr bereichernd. Ein paar Tage aus der Alltagsroutine rauszukommen und an diesen guten Dingen teilhaben zu dürfen, ist ein großer Gewinn.“

Raum für Veränderungen

Eine Fortbildung mit Folgen – denn seither hat sich an der Pestalozzi-Schule viel verändert. Zwar ließ der Zweckbau aus den 1970er-Jahren keine architektonischen Wunder zu, aber mit Fantasie und Tatkraft gelang es dem Kollegium, neuen Konzepten buchstäblich Raum zu geben. In der gemütlich eingerichteten „Oase“ können die Kinder zur Ruhe kommen, in der Aktivitätsecke am Boxsack oder auf dem Trampolin überschüssige Kraft ablassen oder sich im Spielzimmer beschäftigen. Den Nutzen erläutert Susanne Stock-Knirr an einem Beispiel: „Wenn ein Schüler im Unterricht überfordert ist oder unruhig wird, kann eine Integrationskraft die Situation entspannen, indem beide gemeinsam eine Auszeit in einem der Räume verbringen.“

Der stellvertretende Rektor, André Ernst, unterstützte Susanne Stock-Knirr von Anfang an. Bei einem Seminar auf Kreta lernten die beiden nützliche Kniffe für die Erasmus-Antragsstellung. „Unser europäischer Entwicklungsplan erfordert die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Schulsystemen, pädagogischen Konzepten und methodisch-didaktischen Modellen“, schrieben sie in ihrem Projektplan. Was das praktisch bedeutet, erlebten sie und ihre Kolleginnen und Kollegen bei zehn Mobilitäten in fünf Ländern.

Schwedische Pausenkultur

In Österreich lernten die Pädagoginnen und Pädagogen gestaltpädagogische Methoden kennen, in Island erfuhren sie, wie Spielen im Unterricht viele Fähigkeiten fördert, in Spanien stand Didaktik auf dem Projektplan, das italienische Südtirol beeindruckte mit Inklusionskonzepten und Schweden mit einer Schulkultur, die schon viele Erasmus-Partner begeistert hat. Susanne Stock-Knirr erläutert das Konzept: „Die Skandinavier legen großen Wert auf gemeinschaftliche Unternehmungen, auch außerhalb der Schule. Die gemeinsame Kaffeepause ‚fika‘ wird geradezu zelebriert. Dass die Schule ein Ort ist, an dem man es sich schön macht, finde ich wichtig.“

Gesagt, getan – dank der Anregung aus Schweden hat die Pestalozzi-Schule einen Pausenraum fürs Kollegium eingerichtet. Erholen konnte man sich im bisherigen Lehrerzimmer kaum, weil dort auch Schülergruppen lernten oder die Theater-AG und der Schulchor probten. „Man braucht aber einen Rückzugsraum für eine ordentliche Pause, zum Essen und Abschalten.“ Als dann ein Zimmer im neuen Containeranbau frei wurde, ging der Traum in Erfüllung. In gemütlichem Ambiente mit Teppich, Sofas, Küchenzeile und Esstisch lässt sich ein anstrengender Arbeitstag nun besser bewältigen.

 

Europa leicht erklärt

Auch die Schülerinnen und Schüler erleben, wie inspirierend die Vielfalt Europas ist. Auf der Schulwebsite können sie mit ein paar Klicks erfahren, wie Kinder in anderen Ländern „Hallo“ sagen, was sie gerne spielen, welche Lieder sie singen und welche traditionellen Gerichte es gibt – mit anschaulichen Symbolen und in leichter Sprache. „Wir wollen den Kindern erfahrbar vermitteln, was Europa ist. Und das nehmen sie sehr gerne an“, erläutert Susanne Stock-Knirr das Konzept.

Sie wünscht sich, dass ihre Schützlinge die Unterschiede zwischen Kulturen als bereichernd empfinden. Denn auch an der Essener Förderschule gebe es Vorurteile und Ausgrenzung. „Deshalb wollen wir die Kinder zu Offenheit, Toleranz und einem friedlichen Miteinander erziehen,“ sagt die Lehrerin. Vielleicht folgt ja langfristig ein Erasmus-Austausch für die Schülerinnen und Schüler. Dann könnten sie ihre Onlinekenntnisse auch praktisch anwenden, um ihre europäischen Altersgenossen in deren Muttersprache zu begrüßen, gemeinsam zu singen und landestypische Gerichte zu probieren. Kontakt zu engagierten Partnern hätten Susanne Stock-Knirr und ihre Kolleginnen und Kollegen bereits – nicht nur in Südtirol.

Ein Plus für Förderschulen

Was bedeutet Ihnen die Auszeichnung Ihres Projekts?
Es ist ein schönes Gefühl. Leider konnten wir aufgrund der Coronapandemie nur zehn der 14 geplanten Mobilitäten durchführen. Aber wir haben ja trotzdem eine ganze Menge geleistet. Dass unser Engagement gewürdigt wird, motiviert mich auch zu neuen Projekten. Denn auch nach 30 Jahren an der Schule bin ich immer noch neugierig und möchte etwas sehen und erleben.

Es bewerben sich vergleichsweise wenige Förderschulen für Erasmus-Projekte. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Ich glaube, dass viele sich gar nicht angesprochen fühlen und meinen, Erasmus+ sei eher für die Regelschule gedacht. Aber wie man an unserem Beispiel sehen kann, ist es eine tolle Möglichkeit, sich dank der Anregungen aus den europäischen Partnerländern weiterzuentwickeln.

Was raten Sie Förderschulen, die sich für ein Erasmus-Projekt bewerben möchten?
Wenn sie Erasmus+ ausprobieren möchten, könnten sie mit einem Kurzzeitprojekt anfangen. Um die Anträge kommt man natürlich nicht herum. Man muss Zeit und Arbeit investieren, aber es ist ein super Angebot, und es lohnt sich.