Von Lernecken bis Zimtschnecken – Inklusion nach finnischem Vorbild
Die Oberschule Braunlage (Niedersachsen) suchte nach Konzepten für inklusiven Unterricht und fand wertvolle Anregungen bei ihren Projektpartnern. Davon profitieren besonders die Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf.
Das schwarze Sofa vor dem Büro von Schulleiter Quint Gembus ist stets gut besetzt. Hier wird gelesen, diskutiert oder einfach nur gechillt. Der Rektor der Oberschule Braunlage hat das Möbelstück angeschafft, weil es sich in einem gemütlichen Ambiente entspannter lernen lässt. Die Anregung brachte er aus Finnland mit. „Dort gibt es Lernecken auf den Fluren und in den Klassen, viel Kunst und viele Sofas. Das haben wir direkt umgesetzt“, erzählt er. Ruhe und Behaglichkeit tun allen gut, besonders aber Schülerinnen und Schülern, die Schwierigkeiten beim Lernen haben oder sonderpädagogische Unterstützung brauchen. Um ihnen bestmögliche Chancen zu eröffnen, arbeitet die Oberschule Braunlage an einem ambitionierten Inklusionskonzept, das durch Erasmus+ Auftrieb erhielt.
- Dieser Erfahrungsbericht bezieht sich auf das Vorgängerprogramm (Erasmus+ 2014 bis 2021).
- Mehr zum Schwerpunkt “Inklusion und Vielfalt”
Flexibilität für Förderschüler
Damit es nicht nur bei der Idee blieb, machte Schulleiter Quint Gembus das Projekt kurzerhand zur Chefsache. In Finnland besuchte er fünf verschiedene Lernorte, vom Kindergarten bis zum Gymnasium, und war beeindruckt, wie flexibel die Lehrkräfte auf Kinder mit Unterstützungsbedarf reagieren. Sie stellen sich immer wieder neu auf die individuellen Stärken und Schwächen ihrer Schützlinge ein. Wer sich im Klassenverband gerade nicht gut konzentrieren kann, darf in einer der gemütlichen Lernecken Platz nehmen und wird dort individuell unterstützt. Und wer seine Aufgaben im Förderbereich gut gelöst hat oder einfach wieder mit seinen Freunden in der Regelklasse lernen möchte, ist herzlich willkommen. Warum die Organisation den Finnen so gut gelingt, bringt Gembus in seinen Projektnotizen auf den Punkt: „Teamteaching und multiprofessionelle Teams werden nicht nach Stundenkontingenten und Plänen, sondern nach Bedürfnissen eingesetzt.“ Doch gerade diese Gestaltung ist bei vollem und festgefügtem Stundenschema nicht einfach. Wie es trotzdem funktionieren kann, auch das hat sich der Schulleiter bei seiner Hospitation abgeschaut. „In Finnland folgt nach jeder Unterrichtsstunde eine Viertelstunde Pause. Dadurch haben die Kolleginnen und Kollegen viel mehr Zeit, um Absprachen zu treffen“, erzählt er.
Versuch‘s mal mit Gemütlichkeit
Und zwar nicht zwischen Tür und Angel, sondern im freundlich eingerichteten Lehrerzimmer. Bei Kaffee und den legendären skandinavischen Zimtschnecken überlegen sie gemeinsam, wie einzelne Schülerinnen und Schüler bestmöglich gefördert werden können. Ein Beispiel, das auch in Braunlage Schule machen soll, erklärt Quint Gembus: „In unserem Lehrerzimmer kann man sich noch hinter hohen Papierstapeln verstecken. Das wollen wir ändern und einen gemütlichen Raum schaffen, in dem man gerne sitzt und miteinander ins Gespräch kommt.“ Auch eine neue Pausenregelung soll demnächst ausprobiert werden.
Wer durch die Schule geht, entdeckt weitere Neuerungen nach finnischem Vorbild. Den Extraklassenraum für Förderschüler beschreibt Quint Gembus als deren „zweites Zuhause“ – so bunt und behaglich ist es dort. Als er sechs Jahre zuvor die Schulleitung übernahm, war Inklusion ein Randthema, erinnert sich Alexander Heese: „Wenn Kinder mit unentdecktem Förderbedarf sozial auffällig wurden, hat man selten nach den Ursachen gesucht. Heute überlegen wir, auf welchem Niveau wir sie unterrichten können und entwerfen manchmal gleich mehrere Konzepte. Ein enormer Mehraufwand, aber alle ziehen mit.“
Offenheit für Veränderungen
Auch seine eigene Einstellung habe sich gewandelt, sagt Alexander Heese, nicht zuletzt durch den konstruktiven Austausch mit den europäischen Projektpartnern. „Früher habe ich mich darüber aufgeregt, wenn Kinder etwas nicht wussten oder faul waren. Dadurch wurden sie weder schlauer noch fleißiger. Heute nehme ich sie so, wie sie sind, denn auch wer schwierigere Startbedingungen hatte, hat ein Recht auf Teilhabe und Zuwendung.“ Mittlerweile habe jedes vierte Kind nach der Grundschule Unterstützungsbedarf, so Heese. Deshalb seien die bereits bewährten Konzepte und Methoden der Erasmus-Partner von unschätzbarem Wert.
Doch nicht alle Anregungen ließen sich übertragen. Manch gute Idee, wie Filzüberzüge für Schülerstühle, so wie in Finnland, scheiterte an den strengen deutschen Brandschutzbestimmungen. Was sich auf jeden Fall durchgesetzt hat, ist die Offenheit für Veränderungen: „Wenn man mit Begeisterung von seinem Auslandsaufenthalt zurückkehrt, erkennt man, dass mehr möglich ist, als man dachte“, resümiert Quint Gembus. Dafür ist das gern genutzte schwarze Sofa vor seinem Büro ein schöner Beweis.
Unsere Schule ist ein wichtiger Teil Europas
Quint Gembus leitet die Oberschule Braunlage, Alexander Heese hat die Mobilität in Finnland organisiert. Als nächstes wünschen sie sich einen Erasmus-Austausch für ihre rund 130 Schülerinnen und Schüler.
Wie motivieren Sie Kolleginnen und Kollegen, die nicht am Projekt teilgenommen haben?
Quint Gembus: Die eigene Begeisterung hat natürlich ihre Grenzen. Deshalb ist es für uns so wichtig, dass wir möglichst vielen Kolleginnen und Kollegen die Möglichkeit geben, zu reisen.
Alexander Heese: Wir schauen dann, wer hat Interesse und bisher an keiner Fortbildung teilgenommen. Das hebt das Engagement, und das ist der Grund, warum wir uns jedes Jahr wieder für Erasmus-Projekte bewerben.
Was ist für Sie der größte Gewinn des Projekts?
Alexander Heese: Unsere Arbeit ist effizienter und befriedigender geworden. Dazu hat Erasmus+ einen wichtigen Beitrag geleistet.
Quint Gembus: Wir sind eine kleine Schule im Oberharz, trotzdem fühlen wir uns wie ein wichtiger Teil Europas. Das hat unser Selbstwertgefühl gestärkt.
Welchen Tipp geben Sie kleinen Schulen?
Quint Gembus: Wir machen immer viel Werbung für Erasmus+. Einige Schulen haben davon noch nichts gehört, andere trauen es sich nicht zu. Sie haben Angst vor der vielen Arbeit. Als ich die ersten Formulare ausgefüllt habe, habe ich auch geflucht, aber einen besseren Mehrwert kann ich mir nicht vorstellen. Ich rate kleinen Schulen, es einfach auszuprobieren.