„Europa braucht kluge, kreative und kritische Köpfe“

Die Goetheschule Essen machte mit ihrem Erasmus-Projekt auf die Gefahren von Falschmeldungen und Verschwörungstheorien aufmerksam. Es sollte dazu anregen, Fragen zu stellen und Fakten zu checken.

Fakt oder Fake? Diese Frage stellte sich schon zu analogen Zeiten, als harmlose „Elvis lebt“-Gerüchte die Runde machten oder das Ende der Welt angeblich kurz bevorstand. Heute werden Falschmeldungen gezielt im Internet verbreitet, um Meinungen zu manipulieren. Wie lassen sich solche Desinformationen erkennen? Was kann ihnen entgegengesetzt werden? Und welche Auswirkungen hat die systematische Verbreitung von Lügen und Gerüchten für demokratische Gesellschaften?

Das waren einige der Fragen, auf die Schülerinnen und Schüler aus Deutschland, Dänemark, den Niederlanden, Italien und Zypern während ihrer dreijährigen Erasmus-Kooperation Antworten suchten. Die Initiatorin, Karmen Heup, von der Goetheschule Essen, hatte sich für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit entschieden, da Fake News nicht an der eigenen Landesgrenze Halt machen. Sie wollte mit dem Projekt Denkprozesse und Diskussionen ermöglichen, die jungen Bürgerinnen und Bürgern die Notwendigkeit reflektierter Auseinandersetzung mit Informationen vor Augen führen. „Europa braucht kluge, kreative und kritische Köpfe, die unterscheiden können zwischen Wissen und unbewiesenen Behauptungen, Meinungen und Polemik“, erklärt sie.

Website

Die Partnerschulen haben digital mit eTwinning zusammengearbeitet und den Prozess auzf der Projektwebsite festgehalten.

Schwerpunkt des Projekts war das Thema Demokratieerziehung.

Karmen Heup (oben) und Martina Lacroix (unten) haben das Projekt gemeinsam mit weiteren engagierten Kolleginnen und Kollegen durchgeführt.

„Das Projekt entstand aus der Idee, populistischer, nationalistischer und antidemokratischer Rhetorik etwas entgegenzusetzen und Verschwörungsmythen zu entlarven. Damit ist es aktueller denn je.“

 

Aus der Vergangenheit lernen

An ihrem Gymnasium wurde Koordinatorin Karmen Heup durch eine Gruppe engagierter Kolleginnen und Kolleginnen unterstützt, darunter Martina Lacroix, die Englisch und Geografie unterrichtet. Das starke Team entwarf ein anspruchsvolles Konzept: In jedem der fünf Partnerländer sollte ein Lernmodul stattfinden, an dem die Jugendlichen zuvor tatkräftig mitgearbeitet hatten. Beim Auftakttreffen in Essen, unter dem Motto „The Power of Memory“, machten sie sich Gedanken, was im „kulturellen Gedächtnis“ eine Gesellschaft bewahrt ist. Beim Besuch des Erinnerungsortes „Alte Synagoge“ setzten sich die jungen Leute mit dem schändlichsten Kapitel der deutschen Geschichte auseinander, der Ermordung von über sechs Millionen Jüdinnen und Juden. Die Propaganda der Nationalsozialisten fiel damals auf fruchtbaren Boden. Würden wir sie heute durchschauen? Gibt es Parallelen zwischen der Machtübernahme der Nazis in den 1930er Jahren und dem Erstarken rechtsextremer Parteien heute? Was kann man aus der Vergangenheit lernen? Fragestellungen, mit denen sich die Erasmus-Schülerinnen und -Schüler auch an sechs „Lernstationen“ befassten, die sie für die Acht- und Neuntklässler der Goetheschule erarbeitet hatten.

Nicht alles für bare Münze nehmen

Wie aktuell das Thema Manipulation durch Information ist, erlebt Martina Lacroix häufig in ihrem Unterricht. „Viele Schülerinnen und Schüler empfangen Nachrichten aus aller Welt über soziale Netzwerke. Dabei fällt ihnen auf, dass verschiedene Quellen unterschiedliche ‚Fakten‘ berichten. Sie fragen dann: ‚Wie kann es sein, dass Du etwas behauptest, was ich ganz anders gelesen habe?‘“, erzählt sie. Im Projekt lernten sie, nicht alles für bare Münze zu nehmen, sondern Quellen und deren Absichten kritisch zu prüfen.

Das ist auch das Anliegen von Karmen Heup, die neben Deutsch und Englisch das Fach Theory of Knowledge (TOK) lehrt. Schülerinnen und Schüler, die TOK in der Oberstufe belegen, setzen sich vor allem mit der Frage auseinander, „woher wir wissen, was wir zu wissen behaupten“, erläutert sie den Ansatz, den sie auch beim Erasmus-Projekt verfolgte: „Wir wollten den Jugendlichen das Selbstvertrauen vermitteln, sich Wissen und Wahrheit anzueignen und der fatalistischen Einstellung entgegenwirken, dass sowieso überall gelogen wird.“ Hierfür erhielten sie bei vier weiteren Modulen viele Denkanstöße und praktische Tipps.

 

Selbstbewusster Umgang mit Informationen

In den Niederlanden lernte die Erasmus-Gruppe, wie sich mit Statistiken tricksen lässt, in Dänemark gingen sie der Frage nach, wie Literatur gesellschaftliche Missstände aufdecken kann, und auf Zypern analysierten sie Propaganda aus der Zeit von 1930 bis heute. Weil das letzte Treffen in Italien aufgrund der Coronapandemie ausfallen musste, schaltete sich stattdessen das Lehrpersonal online zusammen und sammelte die Highlights des europäischen Lernprojekts in einem umfangreichen eBook. Es bietet zahlreiche Anregungen, wie die Wissens- und Wahrheitssuche in der Schule spannend und abwechslungsreich gestaltet werden kann.  

Dass ihre Arbeit Früchte trägt, erlebt die Essener Projektinitiatorin täglich. Karmen Heup erzählt: „Als die Schülerinnen und Schüler auf eine Website stießen, auf der Corona geleugnet wird, haben sie die richtigen Fragen gestellt, beispielsweise nach dem Urheber der Informationen.“ Und Martina Lacroix ergänzt: „Wenn ihr Browser ihnen jetzt Nachrichten vorschlägt, höre ich öfter: ‚Das ist doch eh nur Quatsch‘. Sie haben verstanden, wie Algorithmen arbeiten und nutzen die Geräte selbstbewusster.“ Dass das Erasmus-Projekt zu diesem Erfolg beigetragen hat, ist Fakt und kein Fake.

Schülerinnen und Schüler, die über sich hinauswachsen

Warum war Ihnen gerade dieses Projektthema so wichtig?  
Wenn man Jugendliche aufs Leben vorbereitet, muss sich jede Schule die Frage stellen, wie man ihnen den kritischen Umgang mit Informationen vermittelt. Das wird heute in den Familien immer weniger thematisiert, weil die Eltern häufig gar nicht wissen, mit welchen Inhalten aus dem Internet ihre Kinder konfrontiert werden. Unsere Aufgabe ist es deshalb auch, einen Dialog zwischen den Generationen anzustoßen.

Wie haben Sie ihre Kolleginnen und Kollegen zum Mitmachen motiviert?
Es ist wichtig, dass man sie anspricht und versucht, sie einzubinden. Vielleicht nehmen sie dann erst einmal an einer Projektwoche teil, lernen die Abläufe kennen und erleben, was an Erasmus+ so begeistert. Dadurch erweitert sich der Kreis.

Weshalb engagieren Sie sich mit immer neuen Projekten für Erasmus+?
Weil die Schülerinnen und Schüler über sich hinauswachsen und Ergebnisse produzieren, die sie im normalen Unterricht vermutlich nicht umsetzen könnten. Inspirierend sind auch die Freundschaften, die im Laufe unserer langjährigen Projektpartnerschaften entstanden sind. Und auch wenn es kitschig klingen mag: mich motiviert das Leuchten in den Augen der Schülerinnen und Schüler.