Inklusion und die Nationale Agentur
Als Nationale Agentur Erasmus + Schulbildung wollen wir den Bedürfnissen von Menschen mit geringeren Chancen bestmöglich gerecht werden und Organisationen, die mit diesen Zielgruppen zusammenarbeiten, in ihrem nationalen Kontext unterstützen. Wichtig ist uns in diesem Zusammenhang außerdem, die Beratungskompetenz in der Nationalen Agentur verbessern. Aber welche Initiativen genau ergreifen wir dazu?
Das Erasmus-Programm hat vier thematische Prioritäten, nämlich Nachhaltigkeit, Demokratie & Teilhabe, Digitale Bildung sowie Inklusion & Vielfalt. Nur zum letztgenannten Schwerpunkt aber gibt es eine Beauftragte, die für die Nationale Agentur eine Strategie entwickelt und koordiniert. Was hebt „Inklusion & Vielfalt“ von den anderen Prioritäten ab, dass diese Beauftragte rechtfertigt?
Das Thema Inklusion hebt sich unter den vier Schwerpunkten im Erasmus-Programm tatsächlich ab. Das zeigt seinen besonderen Stellenwert für die EU- Kommission, die den Nationalen Agenturen deshalb auch Leitlinien zur Umsetzung an die Hand gegeben hat. Inklusion bedeutet dabei Chancengerechtigkeit, gesellschaftliche Teilhabe und Vielfalt ‒ und leistet damit einen wichtigen Beitrag für die Stärkung der Demokratie. Gerade die Pandemie hat offenbart, dass das deutsche Schulsystem unzureichend auf digitales Lernen vorbereitet war. Wie viele Schülerinnen und Schüler in dieser Zeit abgehängt worden sind und um ihre Chancen gebracht wurden, wird sich noch zeigen. Umso wichtiger ist es, dass weiterhin Maßnahmen dagegen ergriffen werden.
Das Programm Erasmus+ steht für Austausch in Europa. Wenn möglichst jeder Schüler und jede Schülerin, ob in der Gruppe oder allein, die Gelegenheit bekommt, über den eigenen Tellerrand zu schauen, besteht die Hoffnung, dass Menschen toleranter gegenüber anderen Kulturkreisen werden und reicher an Eindrücken nach Hause kommen. Und diese Erfahrung sollen insbesondere auch diejenigen machen können, die es sich nicht leisten können, ins Ausland zu fahren, oder aus anderen Gründen nicht in den Blick genommen werden. Dabei kommt es vor allem auf die Lehrkräfte an, die sich für ihre Klassen engagieren – aber ebenso auf die Entscheidungsträger, die für strukturelle Fragen zuständig sind.
Worum genau kümmert sich die Inklusionsbeauftragte? Was ist ihr Auftrag?
Zunächst ging es darum, eine Strategie für unsere Nationale Agentur zu entwerfen, deren Umsetzung ich koordiniere. Grundsätzliches Ziel ist, mehr benachteiligten Schülerinnen und Schülern Auslandserfahrungen mit Erasmus+ zu ermöglichen. Und diese Schülerinnen und Schüler erreichen wir nur über die Schulen. In Zusammenarbeit mit unseren Ansprechpersonen in den Ländern wollen wir insbesondere Grund-, Haupt-, Real-, Gesamt- und Förderschulen für das Programm begeistern. Das sind die Schulformen, die bisher bei Erasmus+ unterrepräsentiert sind. Wir wollen aber auch Einrichtungen ansprechen, die sich schon länger mit Inklusion im Bildungsbereich beschäftigen und mit uns kooperieren möchten. Denn das große politische Ziel der Inklusion und Vielfalt im Schulbereich können wir nicht allein erreichen.
Mein Auftrag richtet sich aber gleichfalls nach innen – in die Nationale Agentur. Wir müssen bei unseren Aufgaben, wie wir Lehrkräfte beraten, Veranstaltungen durchführen oder Informationen auf der Webseite einstellen, ebenfalls sensibilisiert werden, wenn es darum geht, Schulen den Einstieg ins Programm zu erleichtern. Vor allem ist es wichtig, dass wir uns untereinander austauschen. Für Fragen, wo der Schuh drückt oder wo mehr an Informationen benötigt werden, sollten wir alle ein Ohr haben.
„Inklusion“ ist ein schillernder Begriff, den die EU-Kommission anders nutzt, als dies im deutschen Kontext der Fall ist. Wofür sollen die Schulen bzw. Bildungseinrichtungen, die Erasmus+ nutzen, besonders sensibilisiert werden?
Inklusion bedeutet, Chancengleichheit für alle zu fördern und allen Menschen, unabhängig ihrer sozialen oder wirtschaftlichen Lage oder einer Behinderung, die Teilnahme am Erasmus-Programm zu ermöglichen. Sensibilisiert werden sollten Schulen zum Beispiel dafür, nicht nur an die leistungsstärkeren Schülerinnen oder Schüler zu denken, wenn Planungen für Auslandsaufenthalte in Europa anstehen. Sie könnten proaktiv auf die stilleren Schülerinnen und Schüler zugehen, die von sich aus nie auf die Idee kommen würden, sich für einen Auslandsaufenthalt zu melden.
Beeindruckt haben mich Lehrkräfte, die sich für ihre Schülerinnen und Schüler stark gemacht haben. So zum Beispiel, dass die Tochter einer Alleinerziehenden an eine dänische Schule gehen konnte, dass einer Schülerin mit islamischer Religionszugehörigkeit trotz vieler Bedenken ihrer Familie und Glaubensgemeinschaft der Aufenthalt an einer spanischen Schule ermöglicht wurde oder dass ein Junge mit nicht so guten Französischnoten demnächst für einige Monate in Frankreich leben wird. Und eine Lehrerin entschied sich ganz bewusst, mit ihrer, wie sie mir sagte, „Chaotenklasse“ an die Partnerschule zu fahren. Dieses gemeinsame Erleben und die Zusammenarbeit an Themen habe die Klassengemeinschaft gestärkt und das Lernklima immens verbessert, berichtete sie anschließend.
An solchen Geschichten sind wir immer sehr interessiert und freuen uns, wenn Lehrer und Lehrerinnen sie in Veranstaltungen, zum Beispiel zur Organisation von Schüler-Langzeitaufenthalten, teilen oder mich einfach anrufen.
Welche praktische Unterstützung wird es von Seiten der Nationalen Agentur für künftige Antragsteller bzw. Koordinatoren geben? Was gibt es bereits und was ist geplant?
Was es jetzt schon gibt, ist unser Beratungsangebot. Derzeit stehen 25 Kolleginnen und Kollegen allen Einrichtungen im Schulbereich mit Rat und Tat zur Seite, und zwar für die Antragstellung und während des Projektes. Es gibt eine Hotline, die von montags bis freitags angerufen werden kann, und wir erläutern in Veranstaltungen anhand von Beispielen aus der Praxis die Fördermöglichkeiten. Praktikerinnen und Praktiker zum Austauschen und Netzwerken zusammenzubringen, ist wichtig – auch für uns, denn so erhalten wir aus erster Hand Einblicke in die Praxis. 2023 wollen wir ein Barcamp zur demokratischen Teilhabe mit Lehrkräften und ihren Schülerinnen und Schülern aus ganz Europa organisieren. Um gelungenen Praxisbeispielen mehr Aufmerksamkeit zu schenken, zeichnen wir jährlich Schulen aus, die in herausragender Weise Erasmus-Projekte zum Thema Inklusion, aber auch Nachhaltigkeit oder demokratische Teilhabe durchgeführt haben.
Die Fördermöglichkeiten sind, nebenbei gesagt, sehr attraktiv: Lehrkräfte können sich zu allen relevanten Themen aus dem Bereich der Inklusion oder zum Umgang mit heterogenen Klassen im europäischen Ausland fortbilden oder an anderen Schulen hospitieren. Außerdem sind Gruppenfahrten zur Partnerschule oder Auslandsaufenthalte für einzelne Schülerinnen und Schüler ab zehn bis zu 365 Tagen möglich. Schulen, die benachteiligten Schülerinnen und Schülern Auslandserfahrungen mit Erasmus+ ermöglichen, können zudem einen zusätzlichen Zuschuss beantragen. Und sollte eine Schülerin oder ein Schüler mit Behinderung eine Begleitung während des Aufenthaltes benötigen, kann dies auf Antrag komplett gefördert werden. Die EU-Kommission hat wirklich Geld in die Hand genommen, damit Schülerinnen und Schüler sowie das Bildungspersonal mobil sein können. Für Mobilitätsprojekte stehen deutschen Einrichtungen im Schulbereich allein 2022 über 50 Millionen Euro zur Verfügung.
Wie „lebt“ die Nationale Agentur Inklusion in der Gestaltung ihrer Arbeit und ihrer Arbeitsprozesse vor? Wo besteht womöglich innerhalb der Nationalen Agentur Verbesserungsbedarf?
In der Nationalen Agentur arbeiten insgesamt 40 Kolleginnen und Kollegen. Und damit Inklusion nicht nur ein abstrakter Begriff bleibt, soll sich die Inklusionsstrategie ebenso unsere Arbeitsprozesse spiegeln. Wir stehen hier allerdings noch am Anfang, da sind wir ausbaufähig ‒ wie auch das Programm. So funktionieren beispielsweise noch nicht alle technischen Instrumente. Ich würde mir zum Beispiel wünschen, dass im sogenannten Projektmanagement-Tool, in dem die Nationale Agentur die Projekte verwaltet, eine Filterung möglich ist. Förderanträge, in denen bereits eine inklusive Projektarbeit beabsichtigt ist, könnten wir damit besser im Blick behalten. Derzeit geschieht das eher auf Zuruf. Wenn solche Projekte einmal identifiziert sind, dann kommt unsere Öffentlichkeitsarbeit ins Spiel. Clips werden produziert, Artikel für die barrierefreie Erasmus-Webseite oder das PAD-Magazin Austausch bildet verfasst und über die sozialen Medien kommuniziert.
Neu ist, dass wir bei Anmeldungen für unsere Veranstaltungen nach besonderen Bedarfen fragen. Erst jüngst hatte uns eine Teilnehmerin bei einer Abfrage zu organisatorischen Details darauf hingewiesen, dass die Farben des Hintergrundes und der Schrift beim Onlinebogen für eine bessere Lesbarkeit kontrastreicher sein sollten. Für solche Hinweise sind wir dankbar. Denn auch wir sind eine lernende Organisation und versuchen, unsere Arbeit besser zu machen.
Verbesserungsbedarf sehe ich bei der Beratungskompetenz zum Thema Inklusion. Welche Fragen gehen bei den einzelnen Kolleginnen und Kollegen ein, die das Thema berühren? Hin und wieder bekomme ich Anrufe durchgestellt oder E-Mails weitergeleitet. Wir brauchen aber einen stärker strukturierten Austausch. Insofern begrüße ich, dass wir Inklusionsbeauftragten der vier deutschen Nationalen Agenturen uns regelmäßig austauschen und voneinander lernen können. Erst vor Kurzem wurde mir zum Beispiel die Frage gestellt, wie es mit einem individuellen Auslandsaufenthalt für einen Schüler mit Flüchtlingsstatus aussieht. Die Lehrerin selbst hatte schon im Internet recherchiert, das Ausländeramt und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge angeschrieben, aber bisher keine Antwort erhalten. Meine Kollegin von der Nationalen Agentur Jugend hat mir einen Kontakt zum Verein migration_miteinander in Witten (NRW) vermittelt, und tatsächlich konnte die Frage beantwortet werden (Je nach politischem Status des Schülers / der Schülerin und individuellen Begebenheiten ist das möglich). Solche Ergebnisse freuen mich natürlich.
Woran wird sich die Nationale Agentur messen lassen, um 2025 oder 2027 sagen zu können: Das Programm ist inklusiver geworden?
Um sagen zu können, dass das Programm inklusiver geworden ist, brauchen wir messbare Zahlen. Als Ziel haben wir uns gesetzt, mehr Schulen ins Programm zu holen und mehr Schülerinnen und Schüler Auslandserfahrungen mit Erasmus+ zu ermöglichen. Bisher nehmen überproportional mehr Gymnasien am Programm teil, wie wir anhand der Übersicht der akkreditierten Einrichtungen im ersten Jahr ablesen konnten. Das bestätigt auch unsere Einschätzung in Bezug auf das Vorgängerprogramm. Unser Bestreben ist es deshalb, gezielt weiterführende Schulen anderer Schulformen ins Boot zu holen. Denn wie die Autoren der Studie zum internationalen Jugendaustausch: Zugänge und Barrieren in Interviews mit Jugendlichen erfahren haben, glauben viele unter ihnen, „dass ein organisierter Auslandsaufenthalt nur etwas für Gymnasiast*innen ist sowie gute Leistungen und Fremdsprachenkenntnisse verlangt. […] Vor allem Jugendliche, die keine akademische Ausbildung anstreben, glauben, dass Angebote der internationalen Jugendarbeit und des Schüler*innenaustausches daher ‚etwas Besonderes‘“ und deshalb „nichts für sie“ seien. Das möchten wir ändern. Wir hoffen, dass unsere geplanten Maßnahmen mit den Bundesländern und unseren Kooperationspartnern in den nächsten drei Jahren spürbar fruchten.