"Ich wollte diese Chance ergreifen"
Rayan stammt aus Syrien und lebt seit acht Jahren in Deutschland. Mit Erasmus+ konnte sie zwei Monate lang in Dänemark zu Schule gehen - dem Land, in das ihre Familie eigentlich auswandern wollte.
Rayan ist 17 Jahre alt und besucht die 11. Klasse am Gymnasium Brake in der Wesermarsch an der Nordsee. Bevor in zwei Jahren das Abitur ansteht, hat Rayan sich dafür entschieden, etwas auszuprobieren: Im November und Dezember 2024 besuchte sie die Tingbjerg Skole in Brønshøj, einem Stadtteil von Kopenhagen.
"Trotz Heimweh und ein paar Schwierigkeiten lohnt sich so ein Austausch sehr. Ich habe unglaublich viel erlebt und eine Menge an Erfahrungen gesammelt.”
Kirsten Focke koordiniert den Austausch mit Erasmus+ in Brake und hofft, dass noch mehr Jugendliche sich trauen: “Wichtig ist ja, dass die Jugendlichen überhaupt einmal rauskommen und neue Eindrücke bekommen. Viele Schülerinnen und Schüler möchten gar nicht ins Ausland, haben Angst vor Heimweh oder davor etwas zu verpassen."
Dass Schülerinnen oder Schüler beim Aufenhalt an Gastschulen bei Familienangehörigen wohnen, ist ein Ausnahmefall. Aber die Lehrerin kann nachvollziehen, dass es den Schritt für Rayan erleichtert hat: “Manche Eltern haben Bedenken, ihre Kinder zu einer fremden Familie zu schicken - wenn es Verwandte sind, fällt das sicher leichter.”
Erfahrungsbericht von Rayan
Vor etwa acht Jahren ist meine Familie aus Syrien nach Europa geflüchtet und wir hatten Dänemark als Ziel, weil mein Onkel dort wohnt. Da wir aber in Deutschland zum ersten Mal registriert wurden, mussten wir nach Deutschland zurück und uns dort ein Leben aufbauen. In Dänemark haben wir insgesamt zehn Monate gelebt. Als sich dann die Möglichkeit bot, mit Erasmus+ noch einmal in meinem früheren Gastland zu wohnen, wusste ich, dass ich diese Chance ergreifen wollte.
Im Vorfeld waren viele Papiere auszufüllen, denn sowohl Erasmus+ als auch die Schule in Brake mussten sich absichern, dass es mir in meinem Gastland gut gehen wird. Am 19. Oktober bin ich dann mit dem Zug nach Kopenhagen gefahren, wo mich mein Onkel und seine Familie abgeholt hat. Bei ihnen ist das Leben ein wenig wie zuhause: Wir sprechen Arabisch, aber auch viel Dänisch miteinander und mein Onkel kocht meistens syrische Gerichte wie meine Mutter. Aber wenn ich bei meinen Cousins eingeladen bin, dann gibt es meistens dänisches Essen. Ich teile mir das Zimmer mit meiner Cousine, die fast so alt ist wie ich. Wir wohnen in einem Vorort von Kopenhagen in einer Wohnung. Die Tingbjerg Skole in Brønshøj ist so nah, dass ich zu Fuß dorthin gehen kann.
Die Schülerschaft an der Tingbjerg Skole ist sehr multikulturell. Englisch lernt man von der 1. bis zur 9. Klasse verpflichtend. In den Klassen 6 bis 9 muss man eine weitere Fremdsprache lernen und hat die Wahl zwischen Deutsch oder Französisch. Im Deutschunterricht kann ich meinen Klassenkameraden gut helfen und der Lehrer freut sich über meine Anwesenheit. Ich habe auch ein paar Mal den Unterricht übernommen.
Vor ein paar Jahren sprach ich etwas Dänisch, aber das ist mit der Zeit verloren gegangen. Nun kommt es langsam zurück und ich habe in dem einen Monat, den ich nun hier bin, schon gute Fortschritte gemacht. Ich muss sagen, dass es viel einfacher ist, eine Sprache zu lernen, wenn man in dem Land ist. Meine Klassenkameraden sind sehr nett zu mir und unterstützen mich.
"Ich muss sagen, dass es viel einfacher ist, eine Sprache zu lernen, wenn man in dem Land ist.”
Kein Schweinefleisch und keine Smartphones
Die Schule beginnt morgens um acht Uhr und dauert bis 14:30 Uhr. Der Unterricht und die Fächer sind sehr ähnlich wie in Deutschland. Allerdings gibt es hier viel mehr Gruppenarbeiten und man muss selbstständiger arbeiten. Jeder Schüler hat seinen eigenen Lehrplan, den er abarbeiten muss. Alle haben hier einen Laptop, den sie von der Schule erhalten. Die Handys werden morgens alle eingesammelt und in eine Kiste gelegt. Die Kiste landet dann in einem Schrank, der verschlossen wird und nur die Lehrkräfte haben dafür einen Schlüssel. Am Ende des Schultages werden die Handys dann wieder ausgegeben.
Die Tingbjerg Skole legt einen sehr großen Wert auf Umweltfreundlichkeit. Einmal im Jahr engagieren sich die Schülerinnen und Schüler, indem sie Müll in der Umgebung sammeln. Darüber hinaus wird in der Schule systematisch Müll getrennt, obwohl dies in Brønshøj für die Bewohner nicht verpflichtend ist. Ein weiteres Beispiel ist das Angebot in der Schulkantine, das überwiegend vegetarisch gestaltet ist. Gerichte mit Schweinefleisch gibt es überhaupt nicht, lediglich Fisch und Hähnchen werden angeboten und dies in streng limitierten Mengen, sodass jede Schülerin und jeder Schüler pro Woche maximal 80 Gramm erhält.
Handballtraining und Heimweh
Nach der Schule verbringe ich viel Zeit mit meiner Cousine und ihren Freunden. Wir waren zum Beispiel im Kino, sind in der Stadt Essen gegangen, haben einen Freizeitpark besucht und sind Schlitten gefahren. Ende November gab es nämlich ein paar Tage Schnee. Der Tivoli, den wir besucht haben, ist der berühmte Freizeitpark in Kopenhagen. Neben coolen Fahrgeschäften ist dort die Atmosphäre besonders nett, weil der Park architektonisch so schön angelegt ist. Jeden Donnerstag gehe ich außerdem mit meiner Cousine zum Handballtraining. Die Leute hier sind alle sehr freundlich und offen. Viele kommen auf mich zu und stellen mir neugierige Fragen, wer ich bin und was ich hier mache.
Trotz Heimweh und ein paar Schwierigkeiten lohnt sich so ein Austausch sehr. Ich habe unglaublich viel erlebt und eine Menge an Erfahrungen gesammelt. Durch einen Austausch gewinnt man meiner Meinung nach nicht nur an Selbstständigkeit, sondern auch an persönlicher Reife. Man lernt, sich in einer neuen Umgebung zurechtzufinden, fremde Kulturen zu verstehen und sich an ungewohnte Situationen anzupassen. Dabei wird man selbstbewusster, offener für neue Perspektiven und stärker. Solche Erfahrungen fördern nicht nur die sozialen Kompetenzen, sondern tragen auch dazu bei, dass man eigenverantwortlicher wird.
Was ist aus Ihrer Sicht die größte Herausforderung dabei, Einzelschülermobilitäten zu organisieren?
Wir haben leider nicht genug Gastfamilien an den Partnerschulen im Ausland, weder in Spanien noch in Polen oder Portugal. Deswegen sprechen wir auch gezielt unsere Schülerinnen und Schüler an, die selbst Migrationshintergrund haben, beispielsweise mit Familie in der Türkei. Viele Jugendliche sind ja in Deutschland geboren und kennen den Lebensalltag in der Türkei gar nicht richtig und mit Erasmus+ könnten sie beispielsweise für drei Monate dort den Schulalltag mal miterleben.
Die andere große Herausforderung ist: Viele Schülerinnen und Schüler möchten gar nicht ins Ausland, haben Angst vor Heimweh oder davor etwas zu verpassen. Brake ist schon sehr ländlich und unsere Jugendlichen sind manchmal doch irgendwie “Landeier” - es fällt ihnen schwer, aus der Wesermarsch wegzugehen.
Wie motivieren Sie die Schülerinnen und Schüler dann dazu, ins Ausland zu gehen?
Wir bewerben es an der Schule. Beispielsweise gehen die Schülerinnen und Schüler, die schon bei einem Austausch waren, in die Klassen und berichten darüber. Wir unterstützen sie auch dabei, wie Rayan ausführlichere Berichte zu schreiben, die wir dann auf der Schulwebsite veröffentlichen. Außerdem planen wir, dass sie bei unserem Fremdsprachenabend “Agora Polyglotte” an einem Infostand dazu etwas erzählt.
Wie hat das Gymnasium Brake denn Partnerschulen in Europa gefunden?
Brake hat eine Städtepartnerschaft in Polen, die allerdings nicht mehr sehr aktiv war. Der Bürgermeister hat deshalb angeregt, ob wir nicht einen Austausch mit Jugendlichen aus Darlowo organisieren könnten. In Tschechien haben wir auch eine Partnerschule. Diesen Kontakt hat meine Kollegin auf der Europäischen Konferenz im Mai 2024 in München geknüpft. Sie hat auch noch weitere Adressen von skandinavischen Schulen mitgebracht, weil wir dort gerne mal ein Jobshadowing für Lehrkräfte machen möchten.
Außerdem hatten wir vergangenes Jahr ein Drittortbegegnung in Straßburg mit einer Schule aus Lourdes, gefördert durch das DFJW. Nachdem sich die französische Schule nun auch akkreditiert hat, bekommen wir im Mai Besuch von einer Gruppe aus Lourdes. Die Kontaktaufnahme mit der Kollegin an der dänischen Schule hat meine Kollegin Anja Rosenbrock übernommen, als Englischlehrerin fällt ihr die Kommunikation leichter.
Wie erleben denn die ausländischen Gäste ihre Zeit am Gymnasium Brake?
Ich glaube, hier wohnen sehr herzliche Menschen und unsere Schüler sind immer sehr offen dafür, wenn Besuch kommt. Die Jugendlichen hier haben auch große Freiheiten - man kann in Brake überall mit dem Fahrrad hinfahren, die Schule geht nur bis mittags, es gibt die Sportvereine und so weiter. Wir nutzen auch das Brigitte-Sauzay-Programm des DFJW und haben viele Gastschüler aus Frankreich. Die kommen ja aus einem eher restriktiven System und genießen den Aufenthalt hier meistens sehr.